Anforderungen an „Digitale Seelsorge“
Einleitung
Seelsorge ist ein grundsätzlich dem Bereich direkter (face-to-face) Kommunikation zwischen körperlich Anwesenden zugeordnet. In Hinblick auf bewährte Brief-Seelsorge und Ratgeber-Bücher besteht aber durchaus eine partielle Alternative zur Präsenztherapie, wodurch sich eine zeitgleiche Präsenz zweier Personen an einem Ort zum Teil erübrigt.
Wir möchten auf einige Kernaspekte eingehen, in welcher Form wir eine digital gestützte Seelsorge anbieten und welche Vor- und Nachteile wir mit ihr verbinden.
Abwägung Vor- und Nachteile digital unterstützter Seelsorge
Erreichbarkeit und Zugänglichkeit
Das Internet ist 24/7 geöffnet und von den meisten Haushalten unseres Sprachraums mühelos erreichbar. Unser veröffentlichtes Angebot ist nicht an Öffnungszeiten gebunden und bietet Ratsuchenden zu jeder Tages- und Nachtzeit relevante Informationen – egal, ob dieser einen Desktop/Laptop, ein Tablet und ein Smartphone nutzt. Da das Internet zum primären Informationsmedium geworden ist, müssen wir seelsorgerliche Hilfe dort anbieten, wo nach Hilfe gesucht wird.
Menschen mit eingeschränktem Aktionsradius, Studenten oder im Ausland befindliche Arbeitskräfte können mühelos unser Angebot nutzen. Auch Menschen mit motorischen, sensorischen oder kognitiven Behinderungen sind nicht ausgeschlossen und können sich barrierefrei informieren.
Einen weiteren Vorteil erkennen wir bei Videotelefonie-Sitzungen: Klienten wählen ihr eigenes Therapie-Setting. Sie sitzen bei Erstkontakt also beispielsweise auf ihrem vertrauten Sofa, liegen auf dem tröstenden Bett und trinken dabei ihren beruhigenden Lieblings-Tee oder eine heiße Schokolade.
Geringe Kontaktschwelle / Selbstbestimmung
Die technische Kontaktschwelle kann also in Hinblick auf den Informationsabruf nahezu ausgeschlossen werden, lediglich Kommunikationsmittel wie Chat, EMail und (Video-)Telefonie sind Öffnungszeiten unterworfen.
Gerade in sensiblen Bereichen trägt auch die Möglichkeit der Selbstbestimmung (wer bekommt wann Namen, Fakten, weitere Termine/Schritte etc.) der Nutzer die Kontaktschwelle herab und ermöglicht dadurch oft erst eine Kontaktaufnahme. Onlinekommunikation ist gleichberechtigend und gewährt Kontrolle der Selbstenthüllung nach außen. Das bedeutet, dass beispielsweise Vorurteile aufgrund des Aussehens oder Auftretens bei nicht-visueller Kommunikation ausbleiben.
Selbstbestimmung und Anonymität bergen jedoch auch einige Gefahren: es kann sein, dass wir als Seelsorger den Fall statt der (weitestgehend unbekannten) Person im Fokus haben. Dabei kann das sukzessive Mitteilen aber zu einem Spannungsfeld führen, da adäquate Beratung eine gewisse Kenntnis der Sachlage erfordert. Zudem scheinen einseitig anonyme Beziehungen weit unverbindlicher und weniger verpflichtend als es face-to-face Austausch ist: der Nickname „Puki774“ zeigt oft weniger Termintreue als der reale „Max Mustermann“ und klickt bei fehlender Zustimmung gern mal den Chat weg.
Identität und Dialog
Im Kontext von Identität und Kommunikation müssen wir einige klare Nachteile der Online-Seelsorge nennen:
Kanalreduzierte Kommunikation bedeutet, dass bei schriftlichem Austausch Lautstärke, Ausdruck, Gestik und Mimik nicht mit transportiert werden und durch Majuskeln („JA?“), Iterationen („Okeeeee“), Abkürzungen („???“ statt „Wie meinst Du das?“), Akronyme („LOL“) und Inflektivkonstruktionen („*fröhlichwinkt*“) oder Emoticons („😉“) dargestellt werden sollen. Das bewirkt aber eine gewisse Unschärfe im Dialog (ungeachtet falsch gedeuteter Smileys), da das gefühlsmäßige Spektrum eines Smileys recht groß ist. Eine Verbesserung bieten Sprachnachrichten, auch wenn sie nur auditive ohne visuelle Wahrnehmung ermöglichen.
Entkontextualisierung: Als Menschen haben wir viele Faktoren, die uns charakterisieren. Das Internet bietet durch Nicknames, Avatare etc. viele Möglichkeiten, uns dieser Charakteristiken zu entledigen und uns gewissermaßen neu zu erschaffen. Eine solche „Online-Identität“ war zudem häufiger Ausgangspunkt zunehmender seelischer Zerrissenheit, wenn sie als Lebens-Simulation verwendet wurde.
Interaktionsgeschwindigkeit und Selbstreflexion
Die Interaktionsgeschwindigkeit des Internets bietet klare Vorteile, beispielsweise können wir tagesaktuell Korrekturen vornehmen, die Inhalte ausweiten und zusätzliches Material ergänzen, was sonst erst beim Kauf einer neuen Auflage unserer Bücher verbreitet würde.
Eine große Gefahr des Internets und der Social Networks ist, dass wir unsere Taktung den technischen Möglichkeiten anpassen und z.B. unsere Achtsamkeit verlieren. Infolgedessen kann die Qualität der Hilfestellung leiden oder ein nur oberflächliches Antworten die Folge sein.
Das erfordert auf beiden Seiten Disziplin und eine möglichst abgestimmte Korrespondenzform, der gegenseitige Respekt bedingt aber durchdachtes Vorgehen. Sonst kann es gut sein, dass der Seelsorger über eine passende Ausdruckform grübelt und der Klient zwischenzeitlich 15 Chateinträge abgeschickt hat (davon 14x„???“). Ein konkretes Konzept werden wir am Ende der „Reise“ vorstellen.
Einen wertvollen Vorteil der Selbstreflexion bietet sich für beide Seiten, wenn die Chatprotokolle im Nachgang durchgesehen und Optimierungspotential genutzt wird.
Zusammenfassung
Die Online-Seelsorge bietet Ratsuchenden jederzeit barrierefrei relevante Informationen zum Abruf, Erstanamnese-Tests und eBooks runden das Ersthilfe-Sortiment ab. Selbstbestimmung und Anonymität verringern die Kontaktschwellen und erleichtern oft ein schnelleres Sich-Öffnen als in face-to-face Besprechungen, bergen aber die Gefahr geringerer Authentizität durch Entkontextualisierung durch Avatare, Nicknames und fehlende auditive und visuelle Wahrnehmung. Die ohnehin kanalreduzierte Kommunikation erfordert die Beachtung einer Neti-/Chatiquette, die einen Dialog in der Qualität gesprochenen Dialogs sicherstellt. Weitere Disziplin ist durch die hohe Interaktionsgeschwindigkeit gefordert, damit es kein wildes, frustrierendes „Durcheinandertippen“ gibt. So sehen wir den Nutzen der Online-Seelsorge in erster Linie im Informationsabruf, schnellen Aktualisierungsmöglichkeiten und der geringen Kontaktschwelle. Dennoch stellt die Online-Seelsorge meist nur einen ersten Schritt zur face-to-face Therapie dar.